Ich denke, unser Fortschrittsverständnis ist das Grundübel, aus dem sich alle anderen Übel ableiten lassen. Die Idee, die Welt “verbessern” zu müssen, hat im Grunde dafür gesorgt, dass das Leben der einfachen Menschen immer schwerer wurde. Der im Fortschritt enthaltende Glaubenssatz: Wir dürfen nie zufrieden sein mit der Gegenwart, das Glück liegt im “Fortschreiten”, in der Zukunft (wann und was erreicht werden soll, liegt im Dunkeln und wird nicht weiter erkundet).
Die industrielle Revolution, die den Arbeitern durch die Entwicklung von Maschinen die Arbeit einerseits erleichterte, erschwerte die Lage der Arbeiter dennoch dramatisch. Denn auch dieser Fortschritt wurde reiche Beute im Geldsack der Nutznießer. Statt es leichter zu haben, haben wir uns überhäuft mit (Selbst)optimierungsansprüchen, mit denen wir permanent uns, unsere Kinder und unseren Mitmenschen unter Druck setzen.
Die Fiktion eines Fortschrittes will uns suggerieren, dass wir zwar heute noch nicht wirklich glücklich und zufrieden leben können, aber in ferner Zukunft dieses Ziel irgendwie erreichen. Wie – darüber gibt es unzählige Ideen. Und so stolpern wir kollektiv von einer gescheiterten Utopie in die nächste. Der Kapitalismus ist eine fatale Fortschrittsillusion, da er das Menschliche verspricht, während er das Lebendige zerstört.
Das Geld kann im Kapitalismus nicht lebendig sein, weil es einem unnatürlichen Prinzip folgt. Während nämlich alles altert, altert Geld im Kapitalismus nicht, sondern wird durch pure Hortung sogar noch “wertvoller” (Zins). Auf Kosten der wirklich Wertschöpfenden, der arbeitenden, lebendigen Menschen (Schuldner). Marx nannte dies “Ausbeutung”. Seine strukturellen Dimensionen sind allerdings noch viel tiefer und wurden auch von Marx nicht erfasst. Auch jener produzierte eine Idee der Evolution des menschlichen Bewusstseins, die als Fortschrittsideologie ebenfalls rigide Formen annahm.
Fortschritt wird im Kapitalismus, oder besser im Neoliberalismus, mit quantitativem Wachstum gleichgesetzt. Der Wachstumszwang, der sich aus der monetären Zinszinsmechanik ergibt, ist jedoch nicht nur völlig widernatürlich. Er ist lebenszerstörerisch, ähnlich wie der Krebs, der sich durchs gesunde Gewebe frisst, bis alles Leben gewichen ist! Alle Ressourcen dienen im Kapitalismus einzig der Kapitalakkumulation und -verwertung, die damit zwangsläufig und in exponentieller Geschwindigkeit (also höchst aggressiv, parasitär und eigendynamisch – wie der KREBS) jedwede Umweltressourcen, Natur, Umwelt und Gesellschaften zerstört. Der Ausgang ist immer Dekadenz, Diktatur und Krieg! Wir sehen es jetzt wieder und auch die Geschichte zeigte es schon mehr als deutlich!
Psychologisch nährt sich diese widernatürliche und destruktive Wirtschaftsform von der Idee, dass wir die Welt, wie sie ist, nicht hinnehmen dürfen und sie nach unserem Gutdünken “besser” machen müssen. Unsere frühkindlichen Verletzungen sind die narzisstische Initialzündung, die uns antreibt. Denn wir selbst waren für unsere Eltern und Erzieher auch “nie genug”, mussten etwas leisten, um anerkannt zu werden.
Dieses “Besser” bleibt aber eine unklare Fiktion – wir haben niemals einen Diskurs darüber geführt, haben nie eine “Kriteriologie des Glücks” gesucht und entworfen, haben nie erkunden dürfen, wie wir eigentlich leben wollen! Diese Sehnsucht nach einer in der Zukunft liegenden “Erlösung” muss unscharf und nebulös bleiben, damit die Rechnung des Kapitals aufgeht! Stattdessen wandern wir von Ideologie zu Ideologie und lassen uns von unzähligen Heilsversprechern (Politikern, Pastoren, Experten – die alle -nicht immer bewusst – im Dienste dieser Struktur stehen) durch unsere eigene Orientierungslosigkeit leiten. Und dabei kommen wir nie an, weil wir nie auf uns hören, sondern immer nur auf diese falschen “Autoritäten”!
Anstatt das Falsche zu identifizieren und es zu beenden, erfinden wir ständig neue falsche Ideen “der Verbesserung”. Wir messen diese vermeintliche Verbesserung quantitativ! Qualitative Kriterien, mit denen wir eher auf der Ebene der erfahrenen Lebensqualität suchen, spielen weniger eine Rolle. Es geht um Macht, Geld, Zahlen, Gewinnen und Quoten. Und wir glauben diesem Theater um das goldene Kalb im Hamster-Rad des Fortschritts und bleiben in ihm bewusstlos gefangen. Dieses Hamsterrad heißt “Kapitalismus”, welcher längst in uns in Form eines bestimmten Denkens angelegt ist. Der Kapitalismus konnte sich bis zur widernatürlichen, menschenfeindlichen Blüte nur deshalb entwickeln, weil wir Menschen nie zufrieden sind mit dem, was ist. Wir gieren alle ständig nach “Mehr”, “Besser”, “bequemer” und tragen das System dadurch mit.
Schon als Kind lernten wir: Es ist nie gut wie es ist. Und auch ich selbst bin nie genug wie ich bin. Ich muss besser sein, muss mich am anderen messen. Ich werde nur geliebt, wenn ich dieses kranke Spiel von vorne herein mit mache. Deshalb sitzt der Kapitalismus als Urangst vor Ablehnung tief in unserer Seele.
Ich meine, wir müssten uns zunächst mal unseren blinden, unbewussten Welt- und Menschverbesserungswahn eingestehen, dem wir seit der Industrialisierung aufsitzen und der heute gespenstische, technokratische Dimensionen angenommen hat.
Es ist ja völlig in Ordnung, ja menschlich, dass wir uns Ziele setzen. Ziele haben aber nur dann Kraft, wenn sie konkret sind, wenn sie einen subjektiven Mehrwert für den Zielsetzenden und einen Bezug zur Gegenwart und zum gegenwärtigen Handeln haben. Ziele sind konkret und haben einen subjektiven, ja individuellen Bezug zum Zielsetzenden. Der Begriff “Fortschritt” dagegen ist ein Hamsterrad, weil dieser kein Ziel beinhaltet, was kollektiv ausgelotet und definiert wurde. Er bedient sich einer Suggestion, dass das Gegenwärtige irgendwie nicht ausreicht und wir irgendwo hin müssten. Wohin, wozu und wann – das wird nicht gesagt und schon gar nicht einem Diskurs unterworfen. Es wird lediglich suggeriert: “Wir müssen etwas ändern, ohne zu wissen, was und wozu. Aber es wird schon besser sein als das Gegenwärtige”.
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Wir müssen prüfen, wie wir leben wollen, was uns hindert zu leben und was wir brauchen! Wir müssten zunächst identifizieren, was uns hindert, zu leben, was falsch ist an unseren blinden “Lebensentwürfen”, und sie beenden. Erst dann kann es auch wieder besser werden. Indem wir das Falsche beenden! Wir müssten es beenden, ständig “fortschreiten” zu wollen (Das bedeutet nämlich “Fortschritt”) und lernen, uns selbst wieder nahe zu kommen, zurückzukehren zu uns selbst. Zu unseren Gefühlen, unseren wahren Bedürfnissen. Und wir müssten auch unsere Angst wahrnehmen und aushalten lernen, die wir in dieser Ersatzrealität ständig abwehren. Haben wir diese Angst erkannt und integriert im Bewusstsein, dann löst sich auch der Motor des Kapitalismus langsam auf. Der Kapitalismus kann nur funktionieren mit Menschen vor ständiger Angst, ihre Existenzgrundlagen zu verlieren, zu kurz zu kommen. Diese Angst wird beständig geschürt und mit der bloßen Existenzangst verknüpft.
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Natürlich hat jeder Mensch auch andere Ziele, denn wir sind Individuen und das macht uns als Menschen aus. Deshalb brauchen wir eine Wirtschaftsform, die dieser Individualität Rechnung trägt: Ein freiwirtschaftliches Geldsystem. Nur mit ihm kann sich jeder auch individuell verwirklichen, weil diese Unterschiede hier willkommen sind und das kreative Potenzial einer jeden Gemeinschaft ausmachen. Denn die Freiwirtschaft befreit von der Existenz-Angst und der unmenschlichen Ressourcenverteilung, in der nur die Geld-Horter immer mehr Geld bekommen und die wirklich Wertschöpfenden bettelarm werden. Das exponentielle Wirtschaftswachstum wächst wie ein Krebsgeschwür (exponentiell!) im Gewebe der wertschaffenden Menschengemeinschaft.
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Wir sind lebendige, wunderbare Wesen mit eigenem Wert. Fast vergessen wir dies im blinden Fortschrittswahn!
Siehe auch meinen Artikel von 2002 in raum&zeit (PDF): https://t1p.de/ruz2002