Offiziell beteuert die Bundesregierung, sie lehne die anlasslose Bespitzelung privater digitaler Kommunikation ihrer Bürger rundweg ab. Doch die EU-Kommission und KI-Lobby befinden sich mit ihrem Vorhaben bereits auf der Zielgeraden.
von Susan Bonath
Die EU will ihre Bürger massenhaft bespitzeln lassen. Unter dem Vorwand der Prävention gegen Kinderpornografie im Internet sollte am Dienstag die Mehrheit der EU-Staaten einem Plan für anlasslose Überwachung der privaten digitalen Kommunikation ihrer Bürger, einer Chatkontrolle, zustimmen. Noch kam es nicht dazu, denn der Druck ist groß und die Bundesregierung als Mehrheitsbeschafferin zögert. Die Massenbespitzelung der Bevölkerung ist eben nicht so leicht als „westlicher Wert“ zu vermarkten.
Doch zurückgezogen hat die EU-Kommission ihr Vorhaben nicht und die deutsche Führung debattiert im Geheimen weiter. Das CSU-geführte Innenministerium spielt offenbar auf Zeit, um gesellschaftlichen und politischen Widerstand zu zähmen. Und die SPD ist für ihr Umfallen leidlich bekannt. In wenigen Wochen schon könnte der Beschluss fallen. Dann heißt es: Aufgepasst, der Staat liest mit.
Gespaltene Regierung?
Die Bundesregierung beschwichtigt nun die Öffentlichkeit – und hält sich bedeckt. Ob die Gespräche über die präventive, anlasslose Chatkontrolle in der Bundesregierung nach deren Nein beendet seien, wollten mehrere Journalisten in der Bundespressekonferenz (BPK) am Mittwoch vergangener Woche wissen.
Regierungssprecher Stefan Kornelius, ehemals Politik-Ressortleiter der Süddeutschen Zeitung, zürnte: „Wir machen hier keine Chatkontrolle!“ Es gehe nur darum, „Prävention im Fall von Kindesmissbrauch durchzusetzen“, moralisierte er und wetterte dann. Die Debatte habe „eine Schlagseite bekommen“. Seine Regierung habe aber „stets betont“, dass „wir verschlüsselte Kommunikation natürlich nicht kontrollieren“.
Tags darauf hatte die AfD-Fraktion eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema einberufen. Deren Abgeordneter Ruben Rupp empörte sich, dass der Digitalausschuss unter Ausschluss der Öffentlichkeit darüber diskutiert habe. Das Vorhaben, unter dem Vorwand der Bekämpfung sexualisierter Gewalt an Minderjährigen sämtliche digitale Kommunikation auf allen Endgeräten in der EU überwachen zu lassen, sei wohl zu heikel. Offenbar, so Rupp, habe man verhindern wollen, dass „alle Welt gesehen hätte, wie gespalten die Regierung in dieser Frage ist“.
Bis Jahresende durchdrücken
Die zuvor von Kornelius in der BPK suggerierte Einigkeit in der Regierung, gegen eine Chatkontrolle zu sein, gibt es also offensichtlich nicht, wie auch die Linken-Abgeordnete Donata Vogtschmidt im Bundestag bekräftigte. Maßgeblich vorangetrieben wird der Versuch, die deutsche Zustimmung zu den EU-Plänen durchzudrücken, demnach wohl von den Unionsparteien CDU und CSU.
Dass nichts vom Tisch und alles weiter offen ist, räumte Kornelius auf Nachfragen schließlich verhalten ein. Die Koalition spreche sich weiterhin dafür aus, „dass wir jetzt eine Verordnung im europäischen Rahmen zustande bringen“, sagte er mit Betonung auf die angeblich ausschließlich gewünschte Bekämpfung von Straftaten an Kindern. Und er blickte voraus: Dies sei während der dänischen Ratspräsidentschaft noch möglich.
Sarah Frühauf, Sprecherin des federführenden Innenministeriums, ergänzte: Eine endgültige Entscheidung des Europäischen Rates werde wohl im Dezember fallen. Anders ausgedrückt: Bis Jahresende will auch die deutsche Führung ihr Ja geben, um das Vorhaben – vermutlich mit etwas mehr Euphemismen geschmückt – durchzudrücken.
EU-Projekt Massenüberwachung
Dänemark übernahm im Juli die Präsidentschaft im EU-Rat bis zum Jahresende. Im September veröffentlichte das Portal netzpolitik.org ein internes Verhandlungsprotokoll, aus dem hervorgeht, dass Dänemarks Regierung die bereits seit 2022 debattierte Maßnahme der Massenüberwachung privater digitaler Kommunikation unbedingt realisieren will.
Die Befürworter wollen alle Messengerdienste dazu verpflichten, sämtliche private Textnachrichten von Nutzern präventiv und automatisiert auf „verdächtige“ Inhalte zu scannen. Der Probelauf ist schon im Gange: Eine Ausnahme erlaubt das Anbietern schon jetzt, allerdings freiwillig und vorübergehend, denn die Sonderregel läuft im April kommenden Jahres aus.
Seit Jahren arbeitet der Westen an effektiver Massenüberwachung seiner Bürger. Als die Bundesregierung 2017 unter dem Vorwand der Bekämpfung von „Hasskriminalität“ und „Fake News“ das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz einführte, gab es noch Proteste dagegen. Letztes Jahr ersetzte der Digital Services Act, eine EU-Verordnung, das deutsche Gesetz. Anbieter größerer sozialer Plattformen sind danach etwa verpflichtet, „offensichtlich rechtswidrige“ Inhalte zu entfernen und anzuzeigen. Die daraufhin weiter verschärften Löschorgien von Facebook und Co. betreffen allerdings vor allem politisch unliebsame Inhalte.
Bisher unterstützen insgesamt zehn EU-Staaten die Forderung, auch private Chats unter dem Vorwand von Kinderpornografie zu durchleuchten, darunter Spanien, Rumänien und Ungarn. Notwendig wäre ein Ja von 15 Ländern, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Es gibt einige Wackelkandidaten, darunter Deutschland als großer Mehrheitsbeschaffer.
Allianz aus Politik und KI-Lobby
Die Geheimdienste und KI-Kapitalisten versuchen solcherlei Befugnisse zur anlasslosen digitalen Rundumüberwachung der gesamten Bevölkerung seit Jahren auf EU-Ebene durchzuboxen. Ende September hatten Recherchen ein enges Lobbygeflecht aufgedeckt, das KI-Unternehmen wie Thorn und WeProtect, die Überwachungssoftware herstellen, in den Brüsseler Apparaten gesponnen haben.
Demnach trafen sich deren Lobbyisten vielfach mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der zuständigen Kommissarin Ylva Johansson. Überdies belegten die Recherchen, dass der EU-Entwurf eng im Verbund mit großen US-Techkonzernen erarbeitet wurde. Diese priesen demnach Überwachungsfilter an, die vielseitig einsetzbar sind, also weit über das angebliche Ziel hinausgehen.
Anders ausgedrückt: Die Politik könnte politisch unliebsame Gruppen oder Einzelpersonen leichter ausfindig machen und politisch verfolgen. Zugleich warten auf große Techkonzerne erquickliche Sonderprofite – eine „perfekte“ Allianz.
Disziplinieren und profitieren
Glaubwürdig war das Argument der Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder ohnehin nie, da private Messenger kaum eine Rolle spielen bei der Verbreitung solcher Bilder. Um Kriminelle dieser Art zu verfolgen, bräuchte es eher mehr Experten, die Spuren ins Darknet verfolgen. Offenbar ist das also gar nicht das Ziel des Vorhabens.
Böse Zungen raunen bereits, es gehe wohl vor allem darum, die gebeutelte Bevölkerung im imperialen Krisenkapitalismus zu disziplinieren – und den superreichen Privatiers zugleich noch profitablen Datenklau zu ermöglichen. Ein Schelm, wer das in Erwägung zieht?