23. April 2024

Raus aus der Eskalationsspirale!

Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland

Humanwirtschaftliche Politik ist immer auch eine Friedenspolitik. Daher möchten wir diesen Aufruf gern unterstützen. Und auch hier bekannt machen.

(5.12.2021)
Mit allergrößter Sorge beobachten wir die sich abermals verstärkende Eskalation im Verhältnis zu
Russland. Wir drohen in eine Lage zu geraten, in der ein Krieg in den Bereich des Möglichen rückt.
Von dieser Lage kann niemand profitieren, und dies liegt weder in unserem noch im russischen
Interesse. Es gilt deshalb jetzt alles zu tun, um die Eskalationsspirale zu durchbrechen. Ziel muss
es sein, Russland und auch die NATO wieder aus einem konfrontativen Kurs herauszuführen. Es
bedarf einer glaubwürdigen Russlandpolitik der NATO und der EU, die nicht gutgläubig-naiv oder
beschwichtigend, sondern interessengeleitet und konsequent ist. Jetzt ist nüchterne Realpolitik
gefragt.

Fest steht: Die Drohgebärden Russlands gegenüber der Ukraine und das Imponiergehabe
gegenüber NATO-Staaten in Übungen und insbesondere durch Aktivitäten der nuklearen Kräfte
sind inakzeptabel. Dennoch führen Empörung und formelhafte Verurteilungen nicht weiter. Eine
einseitig auf Konfrontation und Abschreckung setzende Politik ist nicht erfolgreich;
wirtschaftlicher Druck und die Verschärfung von Sanktionen haben – dies zeigt die Erfahrung der
vergangenen Jahre – Russland nicht zur Umkehr bewegen können. Vielmehr sieht sich Russland
aufgrund der westlichen Politik herausgefordert und sucht durch aggressives Auftreten die
Anerkennung als Großmacht auf Augenhöhe mit den USA sowie die Wahrung seines
Einflussbereiches im postsowjetischen Raum. Damit steigen die Gefahren für die russische
Wirtschaft (Ausschluss aus dem SWIFT-System) und einer Destabilisierung der Sicherheitslage
besonders in Europa deutlich.

All dies darf seitens des Westens nicht als Entschuldigung für tatenloses Zusehen oder für die
Akzeptanz der Eskalationsverstärkung verstanden werden. Die NATO sollte aktiv auf Russland
zugehen und auf eine Deeskalation der Situation hinwirken. Hierzu sollte auch ein Treffen ohne
Vorbedingungen auf höchster Ebene nicht ausgeschlossen werden. Wir brauchen im Grundsatz
einen vierfachen politischen Ansatz:

• Erstens: Eine hochrangige Konferenz, die auf der Grundlage der fortbestehenden Gültigkeit
der Helsinki-Schlussakte 1975, der Charta von Paris 1990 und der Budapester Vereinbarung
von 1994, aber ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten und auf
verschiedenen Ebenen über das Ziel einer Revitalisierung der europäischen
Sicherheitsarchitektur berät.
• Zweitens: Solange diese Konferenz tagt – und dafür wäre realistischerweise ein Zeitraum
von mindestens zwei Jahren anzusetzen –, sollte auf jede militärische Eskalation auf beiden
Seiten verzichtet werden. Es sollten der Verzicht auf eine Stationierung von zusätzlichen
Truppen und die Errichtung von Infrastruktur auf beiden Seiten der Grenze der Russischen
Föderation zu ihren westlichen Nachbarn ebenso wie die vollständige beiderseitige
Transparenz bei Militärmanövern vereinbart werden. Außerdem müssen Fachdialoge auf
militärischer Ebene revitalisiert werden, um eine Risikominimierung zu betreiben.
• Drittens: Der NATO-Russland-Dialog sollte auf politischer und militärischer Ebene ohne
Konditionen wiederbelebt werden. Dazu zählt auch ein Neuansatz für die europäische
Rüstungskontrolle. Nach Wegfall für die Sicherheit Europas wesentlicher Vereinbarungen
(INF-Vertrag, KSE-Vertrag, Vertrag über den offenen Himmel) ist es angesichts der
russischen Truppenkonzentrationen an der Grenze zur Ukraine vordringlich, gezielt
Maßnahmen zur Schaffung von mehr Transparenz, zur Förderung von Vertrauen durch
Verstärkung von Kontakten auf politischen und militärischen Ebenen sowie zur
Stabilisierung regionaler Konfliktsituationen zu vereinbaren. • Viertens: Es sollte trotz der derzeitigen Lage über weitergehende ökonomische
Kooperationsangebote nachgedacht werden. Der Rückgang der Bedeutung fossiler
Energieträger, von deren Export die russische Wirtschaft stark abhängt, birgt die Gefahr
wachsender wirtschaftlicher Risiken für Russland, die wiederum politische Instabilitäten
bedingen könnten. Wirtschaftliche Zusammenarbeit könnte einen wichtigen Beitrag zu
europäischer Stabilität leisten und zudem ein Anreiz für Russland zur Rückkehr zu einer
kooperativen Politik gegenüber dem Westen sein.

Es müssen mithin win-win-Situationen geschaffen werden, die die derzeitige Blockade
überwinden. Dazu gehört die Anerkennung der Sicherheitsinteressen beider Seiten. Mit Rücksicht
darauf sollte in Fragen der künftigen Mitgliedschaften in NATO, EU und CSTO für die Dauer der
Konferenz ein Freeze vereinbart werden. Dies würde keinen Verzicht auf die Einforderung
grundlegender in der OSZE vereinbarter Standards bedeuten.

Das mag für viele nicht einfach sein und auch nicht der reinen Lehre entsprechen. Aber jede
Alternative ist deutlich schlechter. Deutschland kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Deutschland
sollte alles unterlassen, was seine feste Verankerung im transatlantischen Verbund schwächen
könnte, sollte auf De-Eskalation hinwirken und auf Vereinbarungen dringen, die den Einsatz
militärischer Mittel in Europa jenseits der Bündnisverteidigung ausschließen. Dies sollte nicht als
Einladung an Russland zur Veränderung des territorialen Status quo in Europa missverstanden
werden, aber es gibt für die Ukraine-Krise keine militärische Lösung, die nicht zu einer
unkontrollierbaren Eskalation führt.

Botschafter a.D. Ulrich Brandenburg, Deutscher Botschafter bei der NATO (2007-2010) und in Russland
(2010-2014); Prof. Dr. Michael Brzoska, Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik
(2006-2016); Brigadegeneral a.D. Helmut Ganser, Abteilungsleiter Militärpolitik bei der deutschen NATO-
Vertretung in Brüssel (2004-2008); Prof. Dr. Jörn Happel, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr
Hamburg; Botschafter a.D. Hans-Dieter Heumann, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik
(2011-2015); Botschafter a.D. Hellmut Hoffmann, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei
der Genfer Abrüstungskonferenz (2009-2013); Botschafter a.D. Heiner Horsten, Ständiger Vertreter der
Bundesrepublik Deutschland bei der OSZE in Wien (2008-2012); Brigadegeneral a.D. Hans Hübner,
Kommandeur des Zentrums für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr (1999-2003); Prof. Dr. Heinz-
Gerhard Justenhoven, Direktor des Instituts für Theologie und Frieden; Stephan Klaus, Sprecher der Jungen
GSP; Generalleutnant a.D. Dr. Ulf von Krause, Befehlshaber des Streitkräfteunterstützungskommandos der
Bundeswehr (2001-2005); Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik
Deutschland bei der OSZE in Wien (2012-2015); Prof. Dr. Gerhard Mangott, Universität Innsbruck; General
a.D. Klaus Naumann, Generalinspekteur der Bundeswehr (1991-1996) und Vorsitzender des NATO-
Militärausschusses (1996-1999); Prof. em. Dr. August Pradetto, Helmut-Schmidt-Universität der
Bundeswehr Hamburg; Roger Näbig, Blog Konflikte und Sicherheit; Prof. Dr. Götz Neuneck,
Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik
(2009-2019); Jessica Nies, Sprecherin der Jungen GSP; Oberst a.D. Harry Preetz, Landesvorsitzender Bereich
I der Gesellschaft für Sicherheitspolitik; Oberst a.D. Wolfgang Richter, Stiftung Wissenschaft und Politik,
Leitender Militärberater bei der deutschen OSZE-Vertretung (2005-2009); Oberst a.D. Richard Rohde,
Sektionsleiter Bonn der Gesellschaft für Sicherheitspolitik; Botschafter a.D. Dr. Johannes Seidt,
Chefinspekteur des Auswärtigen Amts 2014 bis 2017; Brigadegeneral a.D. Reiner Schwalb,
Verteidigungsattaché an der deutschen Botschaft M oskau (2011-2018); Prof. Dr. Michael Staack, Helmut-
Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg; Brigadegeneral a.D. Armin Staigis, Vizepräsident der
Bundesakademie für Sicherheitspolitik (2013-1015); Prof. Dr. Johannes Varwick, Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg; Dr. Wolfgang Zellner, Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für
Friedensforschung und Sicherheitspolitik (2009-2019).

ViSdP: Johannes Varwick, Herderstr. 15., 10625 Berlin; post@johannes-varwick.de

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