Ein Blogbeitrag von Rüdiger Rauls
Mit dem Sturz Assads sind Syriens Probleme nicht weniger geworden. Neben den innergesellschaftlichen Spannungen wachsen jene zwischen den USA und der Türkei. Auch Israel verschärft die Lage. Nun bringen die Europäer zusätzlich noch die russischen Stützpunkte ins Spiel.
Kräfteverschiebungen
Assads Sturz hat nur dann einen Vorteil für die Bevölkerung, wenn damit auch die Sanktionen des politischen Westens gegen das Land zurückgenommen werden und der Wiederaufbau voran kommt. An den politischen und gesellschaftlichen Fronten ist eher mit einer Zunahme der Konflikte zu rechnen. War die Damaszener Zentralgewalt unter Assad bereits schwach, zu schwach jedenfalls, um sich auf das gesamte Staatsgebiet zu erstrecken und inneren Frieden und wirtschaftlichen Aufbau zu erreichen, so dürfte diese Zentralgewalt unter den neuen Herrschern nicht stärker erwartet werden. Wichtige wirtschaftliche Ressourcen wie die Ölquellen in den Kurdengebieten stehen Damaskus fürs erste weiterhin nicht zur Verfügung.
Gleichzeitig mit den militärischen Kräften der HTS (Hay’at Tahrir al-Sham) aus dem Norden sollen auch Rebellenverbände aus dem Süden in der Hauptstadt eingezogen sein, „die den HTS-Islamisten in alter Ablehnung verbunden sind“(1). Zum Zusammenbruch des Regimes trug erheblich bei, „dass die Damaszener selbst den Aufstand probten“(2). Die Anwesenheit dreier unterschiedlicher Kräfte birgt die Gefahr von politischen Verhältnissen wie in Tripolis in sich, wo verschiedene Milizen um die Vorherrschaft in der libyschen Hauptstadt ringen, was die politische wie auch wirtschaftliche Stabilisierung des Landes erschwert.
Ähnlich wie in Libyen sind auch in Syrien durch den Sturz von Assad neue Machtzentren entstanden, was dem nachlassenden Zugriff der syrischen Zentralmacht geschuldet ist. Wie schwach diese ist, offenbart sich in den nicht vorhandenen Abwehrmöglichkeiten gegenüber den massiven israelischen Angriffen. Zwar fanden diese auch während Assads Regierungszeit statt, glichen seinerzeit aber eher Nadelstichen. Nun haben sie zur weitgehenden Vernichtung der syrischen Luftabwehr geführt. „Vor allem Flugabwehrraketen russischer Bauart hätten die israelischen Kampfflugzeuge vernichtet“ (3). Die syrische Armee scheint nicht mehr vorhanden oder ist nicht bereit, sich dem Kommando der neuen Herrscher zu unterstellen.
Im nördlichen Sicherheitsstreifen wächst die Machtausdehnung der durch die Türkei unterstützten Syrischen Nationalen Armee (SNA). Nach dem Sturz Assads und dem Einrücken der HTS in Damaskus ist die SNA „in von kurdischen Milizen kontrollierte Gebiete vorgedrungen (4). Tage zuvor hatten sie schon die Stadt Manbidsch eingenommen. Ein Sprecher der SNA meldete, ihre Gruppen „hätten auch die Großstadt Deir-ez-Zor und den dortigen Militärflugplatz erobert“(5).
Ankara unter Druck
Die Türkei verstärkt ihren Einfluss in Syrien. Sie unterstützt nicht nur die SNA und erhöht durch deren Vormarsch den Druck auf die Kurdengebiete. Sie hatte auch durch Waffenlieferungen und sonstige Unterstützung die HTS in die Lage versetzt, die Offensive gegen Assad in Gang zu bringen. Zwischen der Gruppierung und dem türkischen Geheimdienst bestehen schon seit längerem enge Verbindungen.
Mit dessen tatkräftiger Unterstützung gelang es al-Golani, dem Führer der HTS, „seine Machtbasis in Idlib stetig auszubauen (6). Die Türkei hat ihn zu ihrem Mann gemacht, und nun verliert sie keine Zeit, ihren neuen Einfluss in Syrien geltend zu machen und zum eigenen Vorteil zu nutzen.
Ankara geht es dabei weniger um reine Machtpolitik. Schon früh hatte Erdogan erklärt, keine syrischen Gebiete dauerhaft in Besitz nehmen zu wollen. Für ihn steht neben der Eindämmung der Kurden die Lösung des Flüchtlingsproblems im Vordergrund. Die Wirtschaftslage der Türkei ist schwierig, seit die Investoren nach den gescheiterten Putsch von 2016 ihre Gelder aus der Türkei abgezogen hatten. Die Inflation ist hoch, auch wenn sie nicht mehr so gewaltig steigt wie noch vor Jahren. „Je tiefer die Türkei in eine wirtschaftliche Krise rutschte, desto mehr stieg jedoch die Feindseligkeit in der türkischen Bevölkerung [gegenüber den syrischen Flüchtlingen]. Erdoğan geriet innenpolitisch unter Druck.“ (7).
Versuche der Türkei mit den Syrern über die Rücknahme der Flüchtlinge zu verhandeln, scheiterten zuletzt am 11. November dieses Jahres in Astana. Vermutlich sah sich Syrien angesichts der schlechten Wirtschaftslage im eigenen Land und der Not als Folge westlicher Sanktionen nicht in der Lage, noch weitere drei Millionen Menschen zu versorgen. Das Scheitern der Gespräche dürfte für die Türkei den Ausschlag gegeben haben, der HTS grünes Licht für ihre Invasion zu geben. Diese war schon „für Mitte Oktober geplant gewesen“ (8), doch hatte der türkische Geheimdienst MIT „dem zunächst einen Riegel vorgeschoben“(9).
Die Türkei bestreitet eine direkte Beteiligung an der Offensive, aber klar ist auch, dass „sie ohne türkische Zustimmung undenkbar gewesen wäre“(10). Wahrscheinlich zielten die türkischen Absichten auch hauptsächlich auf das Gebiet Aleppo, aus dem die überwiegende Zahl der syrischen Flüchtlinge stammt. Mit der Einnahme dieses Gebiets, das eingekeilt zwischen der Region Idlib und der türkischen Grenze liegt, wäre einem Großteil der syrischen Flüchtlinge die Rückkehr in ihre ursprünglichen Siedlungen ermöglicht und gesellschaftlicher Druck von der Türkei genommen worden. So war der türkische Innenminister Ali Yerlikaya überzeugt: „Wenn Aleppo sicher ist, wird sich die Aufmerksamkeit deutlich von hier [Türkei] nach dort verlagern.“ (11)
Aber es kam anders. Wegen der Kampfverweigerung der syrischen Armee konnten die Rebellen schneller und weiter als erwartet vorrücken. Der Durchzug nach Damaskus war frei und verlief ohne bedeutenden Widerstand, womit sie selbst nicht gerechnet hatten. Unter diesen unerwarteten Entwicklungen war die Türkei um Schadensbegrenzung bemüht. Sie will zwar eine Entlastung in der Flüchtlingsfrage, aber keinen größeren regionalen Konflikt. Da Erdogan um die Empfindlichkeiten Russlands bezüglich seiner militärischen Stützpunkte in der Region weiß, hatte er umgehend mit Putin telefoniert und ein Treffen in Doha verabredet, wo sie unter Beteiligung des Iran ihre „Interessensphären in gemeinsamen Verhandlungen abstecken“ wollten(12).
Einflusssphären
Die russischen Stützpunkte sind der Punkt, wo sich der regionale Konflikt zwischen den Anrainern Syriens zu einem überregionalen ausweiten könnte. Bisher hat Israel nur syrische und iranische Militär-Einrichtungen angegriffen und um die russischen einen weiten Bogen gemacht. Vieles wird davon abhängen, wie sich die Amerikaner verhalten werden. Bleibt Trump dabei, dass er sich in Syrien nicht weiter engagieren will, oder werden ihn seine Berater von diesem Vorhaben abbringen wie bei seinen früheren Abzugsplänen?
Kräfte im politischen Westen glauben Russland so sehr geschwächt, dass der Sturz Assads nun eine günstige Gelegenheit ist, den russischen Einfluss in der Region zurück zu drängen. Mit manchen Medien und Politikern gehen wieder einmal Rachegelüste durch und man glaubt, Putin erneut eine Niederlage verpassen zu können wie in der Ukraine seinerzeit auch. Dass Moskau den Sturz von Assad nicht verhindern konnte, sehen sie als Zeichen russischer Schwäche, wie sie es zu Beginn des Jahres 2022 auch schon einmal falsch gedeutet hatten. Sie scheinen nichts aus ihren damaligen Irrtümern gelernt zu haben, gestehen sie sich noch nicht einmal ein.
So zitiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrem eigenen Denken die Budapester Zeitung Nepszava: „Die Ereignisse in Syrien sind ein eindeutiges Zeichen für die Schwächung Russlands“ (13). Auch die slovakische Zeitung SME wird in dem Sinne angeführt, die Russen seien durch den Ukrainekrieg so erschöpft, „dass sie in Syrien nichts anderes mehr schaffen, als die eigene Haut … zu retten“ (14).
Die ungarische Zeitung versteigt sich sogar in weitere geopolitische Aussichten: „Die Geschehnisse können auch den Demonstranten in Georgien Hoffnung geben: Selbst eine Regierung, hinter der Putin steht, lässt sich stürzen“(15). Diesen Gedanken greift die georgische Präsidentin Surabischwili auf und drängt die EU, auf die Führung ihres Landes mehr Druck auszuüben, jetzt wo sie Russland geschwächt sieht. „Warum soll es dann in Georgien gewinnen, … wenn Russland in Syrien, Moldau und Rumänien verliere“ (16).
Die Europäer würden sicherlich gerne mehr aus der neuen Lage machen, aber ihr Problem besteht darin, dass sie im gesamten Nahen Osten außer zu Israel kaum noch über Kontakte verfügen. Die Türkei ist neben den USA das „einzige NATO-Land, das handlungsfähig ist in Syrien“ (17). Trotzdem aber treten die Europäer jetzt schon wieder im Stile von Kolonialherren auf, indem sie versuchen, Bedingungen aufzustellen und den Syrern Vorschriften zu machen. Wenn auch die Europäer immer wieder die russische Anwesenheit in Syrien zum Thema und zu einem Prüfstein machen wollen für die weitere Unterstützung des Landes durch die EU, so will dieser Funke auf der internationalen Ebene nicht so richtig zünden.
Selbst die Amerikaner schwenken nicht auf diese Linie ein. Sie scheinen mehr damit beschäftigt zu sein, die Kurden weiterhin als ihre Erfüllungsgehilfen in Syrien vor den Angriffen der Türkei zu schützen, ohne dass es zu größeren Verwerfungen zwischen den beiden NATO-Staaten kommt. Für zusätzlichen Konfliktstoff zwischen den beiden sorgt das Vorgehen Israels auf den Golanhöhen und im syrischen Luftraum. Wenn auch die USA Verständnis für Israels Handeln zeigen, stürzt es sie dennoch in Loyalitätskonflikt zwischen dessen Interessen und denen des NATO-Partners Türkei, die schon mit Angriffen gegen israelische Kampfflugzeuge gedroht hat. Die russische Anwesenheit scheint den Amerikanern angesichts dieser Probleme im Moment noch zweitrangig zu sein.
Russland verhält sich ruhig und handelt besonnen. Anders als die Europäer verfügt es seit Jahren über die entsprechenden Kontakte zu den maßgeblichen Kräften in der Region. Wo sie noch nicht vorhanden sind, hat es wenig Probleme, sie zu knüpfen und Vereinbarungen treffen. Nach eigenen Aussagen steht der Kreml „in Kontakt mit allen Gruppen der syrischen Opposition“ (18). Vorrangig geht es Russland natürlich um die eigenen Einrichtungen wie die Botschaft und die Militärstützpunkte. Moskau hat erklärt, „dass die neuen Machthaber [deren] Sicherheit garantiert hätten … [und] Russland mit der neuen Regierung über die Fortdauer der Truppenpräsenz sprechen“(19) werde, sobald sich die Lage beruhigt hat. Trotz des Sturzes ihres Verbündeten Assad scheinen die Russen weniger Probleme mit der neuen Lage zu haben als alle anderen.
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung(FAZ) vom 11.12.2024: Angst vor dem Ungewissen
(2) ebenda
(3) FAZ vom 14.12.2024: Irans Gegner sehen eine Gelegenheit
(4) FAZ vom 13.12.2024: Kurden geraten in Syrien unter Druck
(5) ebenda
(6) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 15.12.2024: Im staatsfreien Vakuum
(7) fazNet vom 8.12.2024: in Ankara freut sich Erdogan
(8) FAZ vom 5.12.2024: Iran schickt Assad Verstärkung
(9) ebenda
(10) ebenda
(11) FAZ vom 7.12.2024: Sie wollen Assad stürzen
(12) FAZ vom 5.12.2024: Iran schickt Assad Verstärkung
(13) FAZ vom 11.12.2024: In Syrien kann es nur besser werden
(14) FAZ vom 10.12.2024: Syrien zeigt, wie sehr die Ukraine Putin erschöpft
(15) FAZ vom 11.12.2024: In Syrien kann es nur besser werden
(16) FAZ vom 19.12.2024: Georgische Präsidentin bitte EU um Hilfe
(17) FAZ vom 17.12.2024: Was Europa will
(18) FAZ vom 9.12.2024: Rebellen stürzen Assad
(19) FAZ vom 12.12.2024: Russische Zeitenwende
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.