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Mit welchen Argumenten die Rentiers ihre enormen Reichtümer rechtfertigen
von Guy Standing
Wir leben im Zeitalter des Rentier-Kapitalismus. Dieser stellt den krisenhaften Höhepunkt eines globalen Transformationsprozesses dar, der alle prokapitalistischen Argumente entkräftet. Denn das System, das sich da herausgebildet hat, ist grundlegend anders, als seine Fürsprecher behaupten. Sie tragen das Glaubensbekenntnis zur „Freiheit der Märkte“ vor sich her und geben vor, diese weiter ausbauen zu wollen. Das ist nicht wahr. Die gegenwärtige Marktwirtschaft ist ganz und gar unfrei.
Wie können Politiker behaupten, wir hätten ein System marktwirtschaftlicher Freiheit, wenn Unternehmen durch Patente 20 Jahre lang Monopoleinkünfte einfahren können und damit jeglichen Wettbewerb verhindern? Wie können sie von freien Märkten sprechen, wenn das Urheberrecht noch 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers dessen Erben ein garantiertes Einkommen zuspricht? Aber statt diese und andere Negationen der Freiheit des Markts zu unterbinden, schaffen die Staaten Regeln, die sie noch verstärken.
Das System der Einkommensverteilung des 20. Jahrhunderts ist zusammengebrochen. Seit den 1980er Jahren geht in den meisten wichtigen Volkswirtschaften ein immer geringerer Anteil des Gesamteinkommens an die Erwerbstätigen. Die durchschnittlichen Reallöhne stagnieren oder sind sogar rückläufig. Heute häuft eine winzige Minderheit von Menschen und Unternehmen einen gigantischen Reichtum an, und zwar nicht durch „harte Arbeit“ oder produktive Tätigkeit, sondern durch sogenannte Renteneinkommen.
Rentiers beziehen ihre Einkünfte aus dem Besitz knapper oder künstlich knapp gehaltener Vermögenswerte. Am bekanntesten sind die Renteneinnahmen aus Grund und Boden, Häusern, Rohstoffen oder Finanzinvestitionen. Aber auch andere Quellen spielen eine immer wichtigere Rolle: Schuldzinsen, die an die Kreditgeber gehen, Erträge aus „geistigem Eigentum“, Renditen aus Kapitalanlagen, überhöhte Profite aus Monopolunternehmen, Einkünfte aus Subventionen oder auch Gewinne von Finanzvermittlern aus Geschäften mit Dritten.
John Maynard Keynes (1883–1946) tat den Rentier als „funktionslosen Investor“ ab, der seine Einnahmen ausschließlich durch sein Eigentum an Kapital erziele, dessen „Knappheitswert“ er ausnutze. In seiner bahnbrechenden „Allgemeinen Theorie“ von 1936 kam Keynes zu dem Schluss, die zunehmende Ausbreitung der Kapitalismus werde „für die Rentiers das langsame Aus bedeuten und folglich auch für die wachsende repressive Macht der Kapitalisten, den Knappheitswert des Kapitals auszunutzen“.1 Nun, 90 Jahre später, sind die Rentiers alles andere als ausgestorben; sie sind vielmehr die wesentlichen Nutznießer des modernen Kapitalismus.
Als sich in den 1980er Jahren der Neoliberalismus durchsetzte, wurde der Begriff der Wettbewerbsfähigkeit zur fixen Idee: Ein Land könne nur dann hohe Wachstumsraten erzielen, wenn es wettbewerbsfähiger sei als das andere. Das bedeutet niedrigere Produktionskosten und eine höhere Rentabilität als bei der „Konkurrenz“ sowie geringere Steuern für potenzielle Investoren.
Die klassische politische Ökonomie setzt auf den Handel mittels „komparativer Kostenvorteile“: Einzelne Länder sollen sich auf die Güter und Dienstleistungen spezialisieren, die sie effizienter als andere produzierten. Doch nun hieß es, dass alle Länder in denselben Dingen die anderen übertrumpfen müssen.
Es ging jetzt darum, ausländische Investitionen anzuziehen und zu halten, die Exporte zu steigern und die Importe einzuschränken. Das rechtfertigte die Senkung direkter Steuern, insbesondere auf Kapital, und Subventionen für Investoren. Konzerne und Finanziers wirkten mit ihrer ganzen Macht auf Regierungen und internationale Finanzinstitutionen ein, einen globalen institutionellen und regulatorischen Rahmen zu schaffen, der den Eliten die Maximierung ihres Renteneinkommens ermöglichen sollte. Die Behauptung, der globale Kapitalismus basiere auf freien Märkten, ist somit die erste Lüge des Rentier-Kapitalismus.
Seit 1995 das für alle Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO) verbindliche „Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums“ (Trips) verabschiedet wurde, gehören die gewerblichen Schutz- und Urheberrechte zu den wichtigsten Quellen von Renteneinkommen. Diese beruhen auf der Marktmacht von Warenzeichen, Urheberrechten, Geschmacksmusterrechten, geschützten geografischen Angaben, Geschäftsgeheimnissen und Patenten. Wissensintensive Industrien, die heute rund 30 Prozent der globalen Produktion ausmachen, erzielen heute ebenso hohe Gewinne aus geistigen Eigentumsrechten wie aus der Produktion von Gütern oder Dienstleistungen. Ermöglicht wurde dies durch das Überlassen von Wissensmonopolen an private Interessenten, was diesen gestattet, den Zugang zu Wissen zu beschränken und den Preis dieses Wissens – und so auch der damit erstellten Produkte und Dienstleistungen – zu erhöhen.
Die Behauptung, geistige Eigentumsrechte würden Unternehmer und Investoren ermutigen, Risiken einzugehen, ist die zweite Lüge des Rentier-Kapitalismus. Viele patentierte Erfindungen beruhen auf öffentlich geförderter Forschung. Die Rechnung zahlt also die Allgemeinheit über Steuern, über höhere Preise für patentierte Produkte und aufgrund des Verlusts geistiger Gemeingüter.
Ohnehin sind die meisten Innovationen, die dank der Patente hohe Erträge abwerfen, das Ergebnis einer ganzen Reihe von Ideen und Experimenten, hinter denen zahlreiche Einzelpersonen oder Gruppen stehen. Der Beitrag, den etwa Bill Gates zum technologischen Fortschritt geleistet hat, gleicht einem Kieselstein am Fuß des Felsens von Gibraltar. Dass man ihm und seinesgleichen den ganzen Felsen überlässt, ist moralisch nicht zu begründen.
Zudem werden viele Patente gar nicht angemeldet, um sie tatsächlich zu nutzen, sondern nur, um zu verhindern, dass andere mit den Ideen etwas anfangen. Das geht so weit, dass herrschende Konzerne tausende von Patenten absaugen und damit Monopoleinkommen generieren, die zu einer regelrechten Geldlawine anwachsen.
Die dritte Lüge des Rentier-Kapitalismus lautet, dass die institutionelle Struktur des Kapitals, die das Zeitalter der Globalisierung hervorgebracht hat, „gut für das Wachstum“ sei. Das Gegenteil trifft zu: Diese Struktur hat das Wirtschaftswachstum eher behindert. Und da, wo ein Wachstum zu verzeichnen war, war es weniger nachhaltig und mit steigenden ökologischen Kosten verbunden, die zu einem erheblichen Teil auf die Mechanismen der Rentier-Ökonomie zurückgehen.
Das gilt speziell für die mittlerweile mehr als 3000 Handels- und Investitionsabkommen, für deren investitionsfördernde Wirkung es keinerlei Belege gibt. Die meisten Untersuchungen haben nur eine schwache oder gar keine Korrelation zwischen solchen internationalen Verträgen und den Investitionsströmen feststellen können. Auch zwischen der Öffnung für ausländische Investitionen und Wirtschaftswachstum besteht kein nennenswerter Zusammenhang, wohl aber zwischen diesen Investitionen und finanzieller Instabilität.
Die vierte Lüge des Rentier-Kapitalismus ist die Behauptung, die Gewinne spiegelten die Effizienz des Managements und seien die Antwort auf dessen Risikobereitschaft. In Wirklichkeit kommen die höheren Gewinne nur den Beziehern von Renteneinkommen zugute. Und ein Großteil dieser Gewinne hat mit Finanzanlagen zu tun oder mit geistigen Eigentumsrechten oder den vielfältigen Subventionen zugunsten des Kapitals.
Auf die Spitze getrieben wird diese Bevorzugung mit dem undemokratischen Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahren (ISDS), das multinationalen Konzernen eine Art Versicherung gegen jegliche Änderungen der Regierungspolitik bietet, die ihre Gewinne schmälern könnten. Wie krass die Privilegierung der Kapitalseite ist, wird uns klar, sobald wir uns vorstellen, dass jeder einfache Bürger ein Klagerecht gegen die Regierung hätte, wenn eine politische Maßnahme sich negativ auf sein Einkommen auswirkt.
Eine weitere Quelle für Rentiereinkommen eröffnet der moderne Onlinekapitalismus, wie ihn zum Beispiel der Taxidienst Uber oder die Helfervermittlung TaskRabbit verkörpern. Durch Dienstleistungsunternehmen dieser Art wird der Arbeitsmarkt vollkommen umgekrempelt: auf direkte Weise, indem Arbeit für Millionen von Auftragnehmern generiert wird, und indirekt durch die Auswirkungen auf die Dienstleister, in deren Geschäftsfelder die neuen Anbieter eindringen.
Die Profitmaximierung der Onlineplattformen beruht einerseits auf dem Besitz eines technologischen Apparats, der durch Patente und andere geistige Eigentumsrechte geschützt ist. Und andererseits auf der zusätzlichen Ausbeutung der Arbeitskräfte, die 20 Prozent oder mehr ihrer Einnahmen an die Vermittler abgeben müssen. Die Betreiber von Unternehmen wie Uber sind Rentiers im klassischen Sinne, die viel Geld verdienen und dafür wenig tun müssen – wie sie selbst zugeben, wenn sie versichern, dass sie lediglich die Technologie bereitstellen, um Kunden und „selbstständige“ Dienstleister zusammenzubringen.
Auch hier zeigt sich also der Trend, dass die Arbeitseinkommen für das Prekariat sinken, während die Rentiereinkommen steigen. Damit sind wir bei der fünften Lüge des Rentier-Kapitalismus: Arbeit sei der beste Weg aus der Armut. Dass das eine Lüge ist, kann tagtäglich eine Armee von Scheinselbstständigen und das Prekariat als Ganzes bezeugen.
Was folgt daraus? Das verdiente Ende des Rentiers, von dem Keynes vorzeitig gesprochen hat, steht als Herausforderung an. Sie ist groß, aber sie ist zu bewältigen. Sie erfordert ein neues System der Einkommensverteilung, wozu unter anderem ein Grundeinkommen gehört, das aus einer Abgabe auf alle Formen von Renteneinkommen finanziert wird. Wenn das nicht gelingt, steht uns ein dunkles Zeitalter bevor. Sollte das Profitstreben der Rentiers nicht eingedämmt und das Bedürfnis nach einer wirtschaftlichen Grundsicherung für alle nicht anerkannt und erfüllt werden, sind hässliche politische Auseinandersetzungen unvermeidlich.
Aus dem Englischen von Nicola Liebert
Guy Standing ist Professor für Entwicklungspolitik an der University of London. Autor von: „Eine Charta des Prekariats“, Münster (Unrast-Verlag) 2016. Dieser Text erschien erstmals im Oktober 2016 auf www.socialeurope.eu.
© Social Europe; für die deutsche Übersetzung: Le Monde diplomatique, Berlin