21. Dezember 2024

Jedes fünfte Kind arm? Jedes vierte? Egal, Panzer sind wichtiger

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Armut in Deutschland – einem der Reichsten Länder der Welt? Und dann Kinderarmut? Ja es werden zu wenige Kinder geboren, aber das ist mit diesem Framing-Begriff nicht gemeint.

Jedes Jahr gibt es neue Zahlen zur Armut, die den alten gleichen, und immer wieder gibt es Berichte der Bertelsmann-Stiftung dazu. Aber es ändert sich nichts, zumindest nicht zum Guten. Wenn es nächstes Jahr noch einen solchen Bericht geben sollte, sind noch mehr Kinder arm.

Von Dagmar Henn

Die Bertelsmann-Stiftung ist dieses Jahr etwas zu früh dran, um das Thema „Kinderarmut“ in die Presse zu bringen. Das Gehege für Sozialthemen in der deutschen Medienlandschaft erstreckt sich nämlich zweimal im Jahr über jeweils vier Wochen – vor Ostern und vor Weihnachten. Den Rest des Jahres wird eigentlich konsequent so getan, als wäre da nichts.

Und, wenn man strikt nach Nachrichtenqualität geht: Dass über 40 Prozent der Kinder von Alleinerziehenden (samt der Mütter) in Armut leben, ist nichts Neues. Die Einführung von Hartz IV führte zu einem Sprung nach oben; aber schon davor lag die als „Armutsrisiko“ beschönigte Armut Alleinerziehender bei 35,4 Prozent. Und auch das ist konstant: Über die Hälfte aller in Armut lebender Kinder sind Kinder Alleinerziehender. Wir reden also von einem Zustand, der Gesellschaft und Politik seit langem bekannt ist, an dem sich aber nichts zum Besseren ändert.

Gleiches gilt für die regionale Verteilung. Es sind die ehemaligen Industriestandorte, an denen die Armut besonders groß ist; in Deutschland nicht anders als in Großbritannien. Im Ruhrgebiet führt Gelsenkirchen, die einstige Zechenhochburg, mit 41,7 Prozent, gefolgt von Essen, Dortmund, Hagen, Herne und Duisburg mit jeweils knapp über 30 Prozent Kindern und Jugendlichen, die von Hartz IV leben müssen. Auch Bremen und Bremerhaven liegen in dieser Größenordnung. Und so ist es ebenfalls seit Jahren, seit Jahrzehnten.

Die Begriffswahl „Kinderarmut“ entstand übrigens in den 2000ern nach der Einführung von Hartz IV, als die erste Überprüfung des Regelsatzes anhand einer neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe stattfand. Da stellte sich nämlich heraus, dass der Regelsatz, also die monatlich zu zahlende Leistung, deutlich erhöht werden müsste, wenn man, wie es das Gesetz ursprünglich vorsah, den Verbrauch der unteren 20 Prozent der Bevölkerung zum Maßstab nähme. Um das zu umgehen, wurde schwupps der Maßstab auf die untersten 15 Prozent reduziert, und zusätzlich wurden reihenweise Ausgaben für unnötig erklärt und damit gestrichen, wie Alkohol, Tabak, Wirtshausbesuche etc. Gestützt wurde das durch eine entsprechende publizistische Kampagne, die der Bevölkerung einreden sollte, Eltern, die Hartz IV bezögen, würden zusätzliches Geld ohnehin nur versaufen.

Die nächste Runde Verunglimpfung gab es dann, als bekannt wurde, dass sich arme Kinder keine Musikschule und keine Sportvereine leisten können, und dann die später als Flintenuschi bekannt gewordene, inzwischen als Präsidentin der EU-Kommission amtierende Ursula von der Leyen ein bürokratisches Monstrum namens Bildungs- und Teilhabepaket gebar, erneut mit der Begründung, die Eltern würden zusätzliches Geld ohnehin nur versaufen (wobei man sich angesichts der Karriere von Flintenuschi durchaus fragen kann, ob das nicht selbst dann bei den Eltern noch besser aufgehoben wäre als bei drei Dutzend Beratergesellschaften).

Nachdem arme Eltern derart als grundsätzlich unverantwortlich gebrandmarkt waren, was natürlich nur ging, indem man die Alleinerziehenden, die die weit überwiegende Mehrheit dieser armen Eltern darstellen, aus der Wahrnehmung verschwinden ließ, weil „versaufen“ und alleinerziehend doch keine so überzeugende Kombination sind, und damit endgültig feststand, dass arme Eltern arm sind, weil sie es nicht besser verdient haben, ermöglicht der Begriff „Kinderarmut“ zumindest, noch gelegentlich über diese Armut zu sprechen.

Die Bertelsmann-Stiftung folgt diesem Muster, an dessen Etablierung sie nicht unschuldig war, auch brav.

„Kinder- und Jugendarmut ist in der Regel immer auch Familienarmut und muss daher im Zusammenhang mit der Situation der Familie betrachtet werden. Kinder und Jugendliche können nichts dafür, wenn sie in armen Verhältnissen aufwachsen. Sie trifft keine Schuld.“

Subtil, aber bösartig. Nur die Kinder und Jugendlichen trifft keine Schuld. Den Rest der Familie, überwiegend die Mütter, dann eben doch, oder? Die Väter spielen übrigens gar keine Rolle, und die Gesellschaft erst recht nicht. Dabei weist schon die regionale Verteilung darauf hin, dass es der ökonomische Zustand der Region ist, der die entscheidende Rolle spielt. Auch wenn, das muss an dieser Stelle auch gesagt werden, die „Armutsgefährdung“ im Süden der Republik bei Weitem nicht so niedrig ist, wie der bundesweite Armutsbericht und auch diese Bertelsmann-Studie es verzeichnen.

Auch die Preise sind nämlich nicht überall gleich. Vor vielen Jahren gab es eine Studie mit einem Vergleich der Lebenshaltungskosten innerhalb Bayerns. Dabei ergab sich, dass selbst ohne Berücksichtigung der Mieten das Leben in Landshut um ganze 15 Prozent günstiger war als in München. Und eine ortsspezifische Armutsgrenze für München, streng nach dem europäischen Kriterium von 60 Prozent des gewichteten Medianeinkommens, ergab plötzlich eine Armutsquote von mehr als 20 Prozent.

Aber das ist egal. Jedes Jahr von Neuem. Das wäre anders, würden die Zahlen zu Armut, Wohnungslosigkeit, zu jedem Aspekt des sozialen Elends einmal im Monat auf der Vorderseite des Lokalteils veröffentlicht, als Gradmesser der politischen Leistung. Jedes fünfte Kind lebt in Armut, deutschlandweit, noch immer. Jedes Jahr, wenn die entsprechenden Berichte erscheinen, wird kurz einmal getönt, ja, da müsse man tätig werden. Und im nächsten Jahr kommen dieselben Zahlen wieder.

Überhaupt, der ganze Bericht erzählt eine Geschichte von gestern. Die zugrundeliegenden Zahlen sind von 2021. Zwischen diesen Zahlen und heute liegt ein Jahr mit hoher Inflation, die gerade für die Armen eben mehr als die offiziellen zehn Prozent betragen hat, weil Nahrungsmittel und Energie einen besonders großen Anteil der Ausgaben ausmachen. Allein diese Entwicklung dürfte den Anteil armer Kinder auf mindestens ein Viertel erhöht haben, was dann für Orte wie Gelsenkirchen hieße, dass die Hälfte der Kinder arm ist.

Ein Viertel der Kinder, die von Hartz IV leben müssen, hat keinen Computer. Die Studie erwähnt das, ohne ins Gedächtnis zu rufen, dass gerade erst im letzten Jahr dieser fehlende Computer hieß, den in die Distanz verlegten Schulunterricht komplett zu verpassen. Noch so ein Signal, wie gleichgültig die Gesellschaft der Armut gegenüber ist – schon die erste Überlegung, Unterricht über das Internet abzuhalten, hätte damit verbunden sein müssen, wie man Rechner und Anschlüsse für die Kinder sicherstellt, die keinen haben. Aber ein Computer pro Kind ist nach wie vor nicht Teil des Bedarfs.

67,6 Prozent der Familien, die von Grundsicherung leben, fahren nicht einmal für eine Woche in den Urlaub, stellt die Studie fest. Tatsächlich bräuchten die meisten mehr als eine Woche; drei Wochen seien die Voraussetzung zur Erholung, wird allgemein gesagt. Interessanterweise ist im Kinder- und Jugendhilfegesetz sogar Familienurlaub vorgesehen, aber an keinem Ort wurde dieser Anspruch bisher umgesetzt. Es wäre möglich.

Überhaupt wäre vieles möglich, so man denn wollte. Garantiert hätten die Kinder und die Alleinerziehenden eine Lobby wie das Kiewer Regime, mit Fürsprechern in jeder Redaktion und einem Haufen Internettrolle, in drei Wochen wäre das Ding gewuppt. Ein, zwei Kitschreden der Sorte Annalena „da hungern Kinder“ dazu, noch eine Handvoll Talkrunden, in denen sämtliche Gäste in unterschiedlichen Tonlagen beteuern, welch wichtige Herausforderung es doch für das Land wäre, dass alle Kinder gut heranwachsen, welch bedeutende europäische Werte doch Menschenwürde, Bildung und Kultur seien, die man unbedingt gegen die materielle Not verteidigen müsse – fertig.

Ja, wenn man Armut mit Panzern bekämpfen könnte. Leider ist das Wort „Kinderarmut“ aber noch in einem ganz anderen Sinne passend für Deutschland. Das Land ist arm an Kindern. Was unmittelbar mit der Armut von Kindern verknüpft ist, auch wenn immer so getan wird, als wäre das eher ein Produkt einer modernen Gesellschaft. Die Geburtenrate der DDR war wesentlich höher, und sie sank sofort ins Bodenlose, als die soziale Sicherheit schwand. Migranten übrigens haben genau in der ersten Generation mehr Kinder als Deutsche. Sobald klar ist, dass die ausgedehnten Familiennetzwerke als soziale Unterstützung ausfallen, die staatliche aber eher darauf ausgerichtet ist, von der Kinderaufzucht abzuhalten, fällt auch da die Geburtenrate.

Der ganze Umgang mit Armut in Deutschland richtet sich nicht am Interesse der Bevölkerung aus, zu der eben auch der arme Teil gehört, sondern an dem der Kapitaleigner; bei Hartz IV ging es schlicht darum, die Löhne zu drücken, was ja auch gelang, und die diversen Migrationswellen dienen dem selben Zweck, mit dem zynischen Hintergedanken, dass es billiger ist, das Menschenmaterial fertig zu importieren. Zuletzt gab es eine Reihe von Punkten, an denen das Probleme machte, weil sich die Strecke vom Analphabeten zum Metallfacharbeiter eben doch über ein Jahrzehnt hinzieht; aber wenn die deutsche Industriegesellschaft einmal geschreddert ist – um einen Holzpflug zu ziehen, muss man nicht lesen können.

Man kann den diesjährigen Durchlauf des Themas „Kinderarmut“ durchaus als Abschiedsvorstellung betrachten. Die aktuelle Bundesregierung tut ihr Bestes, das Thema Armut gleichzeitig aus seinem Nischendasein zu befreien, indem die Gruppe der Armen zielgerichtet ausgeweitet wird, und es gleichzeitig im schwarzen Loch der Berichterstattung zu versenken. Denn wer wird noch über Kinder berichten, denen die Geburtstage von Freunden entgehen, weil sie keine Geschenke kaufen können, wenn die Ampel es endlich geschafft hat, Europa in Brand zu setzen? Beim jetzigen Tempo jedenfalls findet die Weihnachtsrunde Sozialthemen bereits nicht mehr statt.

Und wenn man den Grad der Unmenschlichkeit betrachtet, des Antihumanismus, der sich in dem Kriegsgeschrei, dem erbarmungslosen Verheizen der Ukrainer, dem blanken Rassismus gen Russland und der Zerstörung des deutschen Wohlstands gleichermaßen ausdrückt, muss man feststellen, dass die Kaltschnäuzigkeit, mit der bald 20 Jahre lang derartige Berichte über arme Kinder zu den Akten gelegt und vergessen wurden, Vorahnung wie Vorbereitung waren.

Denn Menschlichkeit ist instinktiv; Kinder kennen Mitgefühl und haben einen Sinn für Gerechtigkeit, ohne sie gelehrt zu bekommen. Es ist die Unmenschlichkeit, die eingeübt werden muss. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Armut und die Bereitschaft, zur Erhaltung eines globalen Raubregimes in den Krieg zu ziehen, sind Schritte auf ein und demselben Weg in den Abgrund. Die Karriere der Ursula von der Leyen von der Erfinderin des Bildungs- und Teilhabepakets zu Flintenuschi zur obersten europäischen Kriegstreiberin besitzt eine tiefe innere Logik.

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