22. Juni 2025

Meinungsfreiheit – eine Ran Rede

von Phillip Schaller

Letztes Wochenende hatte ich die Ehre, das Meißner Literaturfest zu eröffnen. Ich habe dazu eine Rede zur Meinungsfreiheit in Deutschland geschrieben. Die Sächsische Zeitung hat sie dankenswerterweise als Gastbeitrag veröffentlicht – in einer verknappten, aber inhaltlich nicht gekürzten Fassung. Der Text ist auf viel Interesse gestossen, weshalb ich mich entschlossen habe, ihn hier (in der verknappten Form) zu veröffentlichen.

Meinungsfreiheit – eine Ranrede

Vorab: Den Ist-Zustand der Meinungsfreiheit in eindeutigen Worten beschreiben, ist für mich unmöglich. Ich werde mich also ranreden müssen. »Ranreden«, das ist eine eingestaubte Übung in einer Zeit, in der die schnellste Meinung zählt. Sich ranreden, das ist eine Zumutung. Für Schreiber und Leser. Ranreden, das ist wie wandern im Hochgebirge. Im Nebel. Ohne Karte. Mit Umwegen, Irrwegen, Abgründen und Sackgassen.

Also dann! Rede ich mich mal ran.

Wenn ich als Kabarettist auf der Bühne stehe, merke ich: Die Zuschauer sind empfindlich geworden. Jedenfalls spüre ich andere Empfindlichkeiten als früher. Vor allem bei Zuschauern, die an den ideologischen Rändern stehen, egal ob rechts, links, quer oder im grünen Gefechtsstand. Ein falscher Satz – und es hagelt Beschimpfungen per mail und google. Ich war schon Rassist, AfD-nah, Schlafschaf, linke Zecke und Putins Nutte.
Ich erzähle das nicht, weil ich mich für besonders mutig halte. Als Kabarettist habe ich es auszuhalten, wenn mir Widerspruch und Beschimpfung entgegenschlägt, auch unter der Gürtellinie. Ich erzähle das, weil Meinungen zunehmend gar nicht mehr mit Argumenten, sondern nur noch mit Beschimpfungen beantwortet werden. Nicht das Gesagte, sondern der Mensch wird in Frage gestellt. Ein Gegenargument würde ja Zuhören voraussetzen. Stattdessen wird schon nach Munition gesucht, wo noch gar kein Ziel ausgemacht ist.

Noch schlimmer wird es, wenn die Beschimpfung ausbleibt und stattdessen das Unverständnis des Gegenübers mir angelastet wird.
Beispiel: Als ich mal auf der Bühne Frau Baerbock kritisierte, war ein Freund darüber so wütend, dass er mich hinterher anfauchte: »Ich verstehe dich nicht! Ich versuche es ja! Aber ich verstehe dich einfach nicht!« Er versteht mich nicht, also kann mit mir etwas nicht stimmen. Er versteht mich nicht und macht das zu meinem Problem. Er versteht mich nicht, hat aber keine Frage. Er versteht mich nicht und hält das schon für eine Meinung.

Weg von mir: Wie oft mussten die »Rückschrittlichen« unter den Ostdeutschen schon lesen, dass die »Fortschrittlichen« unter den Westdeutschen sie einfach nicht verstehen? Wie können sie so falsch wählen, wie können sie Windräder ablehnen, warum gendern sie nicht und warum glauben sie, ihre Meinung nicht frei sagen zu können! Wie können sie nur! Sie verstehen es nicht und halten das schon für eine Meinung.

Der Dokufilmer Matthias Schmidt hat etwas Ungeheuerliches gewagt. Er ist durch Ostdeutschland gereist und hat einfach mal nachgefragt. Sein Film »Wut. Eine Reise durch den zornigen Osten« verzichtet auf eine einordnende Kommentarspur, die die Antworten ins »rechte Licht« rückt. Dass ich das Fehlen des hospitalisierenden Kommentars schon für eine Sensation halte, das allein erzählt schon etwas über unsere Debattenkultur. Die einfache, die nicht wertende Frage »Warum«, nicht gestellt an selbsternannte Experten, sondern an einfache Bürger aus Borna und Pirna. Einfache Menschen geben die aus ihrer Lebensrealität gewonnenen Antworten. Dieses journalistische Extremexperiment muss zu Sorgenfalten auf den Stirnen mancher Redakteure geführt haben.

Nichtverstehen als Meinung.
Wie oft hielt ich selbst es schon für mitteilenswert, dass ich nicht verstehe, warum so viele US-Bürger Donald Trump wählen – wie oft beließ ich es dabei. Habe mich daran gewärmt, wenn ich mich mit meinem Nichtverstehen von anderen Nichtverstehern verstanden fühlte. Nichtverstehen als Meinung – eingeübtes Bestätigungsritual quer durch alle politischen Lager. Nichtverstehen von Männern in Schlauchbooten, die Frau und Kinder verlassen – wie können sie nur! Nichtverstehen von Menschen, die sich auf die Straße kleben – wie können sie nur! Immer wieder Nichtverstehen als Meinung – und immer wieder hülfe die einfache Frage »Warum«. Dann fragt halt nach!
Wenn Nichtverstehen nicht zum Nachfragen führt, ist das ausschließlich unser Problem. Das sollten wir unseren Therapeuten erzählen, uns aber nicht mehr öffentlich für unser Unverständnis bewundern lassen.

Wie gesagt: Mut hat mit meiner Arbeit nichts zu tun. Mut hatte die Lehrerin, die bei einer Meißner Demo zum Ukrainekrieg die einfache Frage ins Mikro stellte: »Wie sollen wir unsere Kinder zum Frieden erziehen, wenn die Gesellschaft kriegstüchtig werden soll?« Buhrufe aus dem Publikum. »Erzähl das Putin!« Manche forderten brüllend, der Rednerin das Mikro wegzunehmen. So eine einfache Frage, so ein Gebrüll.

Ich könnte es mir einfach machen und schreiben: »In Deutschland darf jeder frei seine Meinung sagen«. Manch ein Leser hätte sicher seinen Spaß. Der Satz ist ja auch lustig. Aber glauben wir das wirklich? In dieser Absolutheit? Ja, wir haben Meinungsfreiheit. Ja, jeder darf seine Meinung sagen. Und die Kindergartenregel zwingt mich, hinzuzufügen: Nein, niemand wird für seine Meinung eingesperrt. Ja, wir leben besser als im Iran. Und weil ich besonders schlau bin, sage ich auch noch, dass natürlich jeder seine Meinung sagen darf, aber – Achtung, Hammerargument – mit Widerspruch rechnen muss.

Zwei Fragen.

Erste Frage: Was ist Widerspruch? Beschimpfung? Unterstellung?
„Wenn einer das sagt, muss er dies sein! Wir wissen ja, von wem es kommt! Ein Sebnitzer, wer hat noch Fragen!“
Und wem jetzt bei »Sebnitzer« zuerst der Dachdecker aus dem Sebnitzer Amtsblatt vom April einfällt, der »keine Bimbos« ausbilden will, der sieht nicht, dass Sebnitz eine Stadt mit zehntausend Einwohnern ist. Unser Finger ist zu schnell am Abzug! Bevor wir unser Gewehr auf andere Menschen abfeuern, sollten wir da nicht wenigstens einmal fragen: »Wer da?« Welche Erfahrungen hast du gemacht? Wer im Souterrain nach Norden raus wohnt, hat eine andere Sicht als jemand, der aus der Beletage heraus nach Süden blickt. Und wir tun immer so, als könne jeder einfach in die Beletage ziehen.

Früher haben wir sonntags unsere Autos geputzt. Heute putzen wir unsere Feindbilder – in jeder freien Minute. Dabei müssen wir uns nicht einmal nass machen. Das geht bequem mit dem Daumen auf dem Display. Wir schenken Herzen an Gleichdenker und feuern unsere Meinungen unter die Beiträge von Andersdenkern. Vielleicht sollten wir das Feuer einstellen. Vielleicht sollten wir dazu übergehen, unsere Meinung in den Raum zu stellen, wie eine sonderbare Plastik, damit sie von allen Seiten betrachtet und hinterfragt werden kann. Auch und vor allem von uns selbst. Wir müssten dann um unsere eigene Meinung herumwandern – und würden uns, wie bei einer sonderbaren Plastik, fragen, ob es sie überhaupt gibt, die »richtige Seite«. Das Problem ist ja: Wer glaubt, auf der richtigen Seite zu stehen, muss zwangsläufig glauben, auch die richtige Sicht zu haben. Wer woanders steht, hat dann keine eigene Sicht. Nein, er »verbreitet Narrative«. Noch so eine Diffamierung.

Zweite Frage: Ist es nicht schon ein Problem, wenn laut Umfragen 44 Prozent der Menschen in Deutschland vorsichtig sind, ihre Meinung frei zu äußern? Wir können diese 44 Prozent abtun, wir können sagen: Euer Problem! Und ich sage nicht, dass diese 44 Prozent sich als Opfer fühlen oder darstellen sollten. Ich glaube auch nicht, dass diese 44 Prozent noch nie ihre Meinungen in Kommentarspalten abgefeuert haben. Wir machen ja alle mit. Aber ich frage mich, wie können wir alle dazu beitragen, dass alle Menschen angstfrei reden können? Alle! Linke, Rechte, Grüne. Migranten und Stollberger, Akademiker aus Berlin und Stahlarbeiter aus Riesa. Dass jeder das Recht hat, sich ranzureden. Mit Umwegen, Irrwegen, Abgründen und Sackgassen. Ich plädiere also für eine Meinungsfreiheit im umgekehrten Sinne: Für eine Freiheit von(!) schnellen Meinungen. Was verboten ist, steht ja im Strafgesetzbuch. Alles andere muss angstfrei gesagt werden dürfen.

Vielleicht sollten wir einfach mehr lesen. Geschichten von anderen Perspektiven und Abgründen. Geschichten, die uns unsere schnellen Meinungen im Halse stecken bleiben lassen. »Jeder Mensch ein Roman«. Vielleicht gehört die Pflicht zur Neugier unbedingt zum Recht auf freie Meinungsäußerung.

(c) Philipp Schaller, Juni 2025
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